Der bekannteste Woltersdorfer des vergangenen Jahrhunderts war zweifelsfrei der Philosoph und Soziologe, Professor und Doktor der Sinologie (Chinakunde) Karl August Wittfogel.
Er wurde am 6. September 1896 als Sohn des Dorfschullehrers und Kantors J.J.H. Wittfogel in Woltersdorf / Nds. geboren.
Eine frühe Zeitzeugin, nämlich die Pastorentochter und Chronistin Milli Klatt, geborene Frank, berichtet:
Zu jener Zeit unterstand die Schule noch der Kirche und der Kantor Wittfogel unterrichtete uns Kinder, zusammen mit seiner Frau. Sein Sohn Karl konnte bereits mit 4 Jahren lesen und mit 6 unterrichtete er schon die Kleinen. Was für ein Wunderkind!“
Frühzeitig besuchte er dann die höhere Schule, das Johanneum in Lüneburg und machte dort 1914 – im beginnenden Kriegsjahr – sein Abitur. Ein Ausschnitt aus einem Interview von 1979 gibt einen Teil seiner damaligen Denkweise wieder:
Seit Obersekunda fand ein Einbruch in mein Denken statt, der kam aus einer Gegend, die sich ganz gegen meine Tradition richtete. Diesen Einbruch förderte das sozialistische Buch der Lily Braun. Aber da waren vor allem die Skandinavier, Ibsen, Bjoernson und später Strindberg, und da waren die Russen, und da war Nietzsche. Mit ihm begann alles zu zerbröckeln. Von Obersekunda, Unterprima (Klasse 11 und 12) an war ich schon in einer Entwicklung begriffen, die das «Establishment» nicht wollte. Ich war also bereit, meinen eigenen Weg zu gehen. Obgleich ich der einzige war in der Oberprima, der sich nicht freiwillig zum Kriegsdienst meldete, kamen die anderen alle zu mir und sagten: «Du verstehst, warum wir uns alle melden, aber wir verstehen auch, dass du dich nicht freiwillig meldest, denn wir wissen, dass du ja eigentlich diesen ganzen militärischen Zusammenhang ablehnst.» Ich denke immer noch mit Rührung daran und ohne es eigentlich zu verstehen, warum meine Schulkameraden so gut zu mir waren und mich nicht wie die Außenseiter verurteilten.“
Bereits während seines Studiums in den 20er Jahren wandte sich Wittfogel der der sozialistischen, speziell der kommunistischen Arbeiterbewegung zu und griff außer mit theoretischen Schriften auch mit politischen Theaterstücken in die kulturellen Auseinandersetzungen der Weimarer Republik ein. Zugleich begann er mit der Entwicklung seiner wissenschaftlich-revolutionären Theorie der Gesellschaft Chinas.
Er arbeitete 8 Jahre an der Universität Frankfurt am Sozial-Forschungsinstitut. 1926 publizierte er seine erste Analyse über die Struktur der chinesischen Politik. Als Mitglied der von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno begründeten „Frankfurter Schule“, widmet er sich ab 1931 ganz dem Anti-Hitler-Aktivismus.
Nach der Machtübernahme wurde er 1933 bei seiner Flucht in die Schweiz verhaftet und in das Konzentrationslager Esterwegen verbracht. Nach 9 Monaten erkrankte Wittfogel so schwer, daß er 1934 überraschend entlassen wurde und zwei Wochen später mit seiner Frau nach England floh. Hier schrieb er seine, von Todesangst und Qualen geprägten Lagererfahrungen im Moor, in Form eines Romans (”Staatliches Konzentrationslager VII”) nieder, der 1936 unter dem Pseudonym Klaus Hinrichs in London erschien.
Noch im Jahr seiner Haftentlassung emigrierte er 1934 nach Amerika und arbeitete an der Columbia-Universität in New York. Regelmäßig reiste er nach China um seine Forschungsarbeit weiter fortzusetzen. Er leitete das „Chinesische-Geschichts-Project“, das von einigen amerikanischen Universitäten unterstützt wurde.
Nach dem Abschluss des Hitler-Stalin-Pakts brach er 1939 endgültig mit der kommunistischen Partei. Dies führte schließlich dazu, daß er sich in der Nachkriegszeit mehr und mehr zu einem ausgesprochenen Gegner des sowjetischen Regimes und des kommunistischen Chinas entwickelte.
Von 1947 bis 1966 lehrte er als Professor für chinesische Geschichte an der Universität von Washington in Seattle. In diese Zeit fällt 1957 die Veröffentlichung seines wohl bedeutendsten Buches, „Die orientalische Despotie”, in dem er die asiatische Produktionsweise, kurz APW genannt, eindrucksvoll beschreibt. In der Hauptsache geht es hierbei um die Entwicklung künftiger Gesellschaften durch die Modifizierung des Bewässerungs-Ackerbaus. Kritiker seines Buches bemängeln die starken antikommunistischen Polemiken darin und führen dies darauf zurück, daß der Autor Wittfogel zu dieser Zeit bereits für das amerikanische Verteidigungsministerium (Pentagon) tätig ist.
Karl August Wittfogel starb am 25. Mai 1988 in New York, USA.
Auch heute noch wird Karl August Wittfogel im Unterrichtsmaterial für Schüler als Vertreter einer Erklärung für Unterentwicklung zitiert, nach der die ungünstigen, natürlichen geographischen Verhältnisse und ihr Einfluss auf das gesellschaftliche System, als Ursachen für die fehlende Entwicklung einer modernen industriellen Wirtschaft angesehen werden müssen. (Nachzulesen in „Informationen für politische Bildung“ im Heft „Entwicklungsländer„.)
(Text & Recherche: Jo Kracht)
Nachtrag – eine Würdigung
Vielleicht ist die Zeit jetzt langsam reif, daß man in Woltersdorf öffentlich darüber nachdenken kann, wie man den großen Sohn mit einem würdigen Andenken ehren könnte. Eine Straße oder ein Platz, in einem der zahlreichen Neubaugebiete mit seinem Namen zu versehen, wäre durchaus eine passende Möglichkeit.
Mehr über Prof. Dr. Karl August Wittfogel erfahren:
- Portrait auf literaturport.de
- de.wikipedia.org/wiki/Karl_August_Wittfogel
- Schüler am Johanneum-Gymnasium in Lüneburg
- bundesstiftung-aufarbeitung.de/de/(…)/karl-august-wittfogel
- Staatliches Konzentrationslager VII – Emslandlager
https://diz-emslandlager.de/veroeffentlichungen/wittfogel/ - Portrait von Wittfogel, fotografiert von dem großen Fotografen August Sander, ausgestellt im MoMA in New York – auch hier zu sehen auf wikipedia