Die Geschichte der Milchbänke in Woltersdorf, erzählt von Joachim Kracht:
„Um heute zu verstehen, welche Bewandtnis es früher mit den Milchbänken in Woltersdorf hatte, muss man das Rad der Zeit ein wenig zurückdrehen – und zwar ins vergangene Jahrhundert:
Im harten Winter 1945 glückte meiner Mutter die Flucht vor den marodierenden Sowjettruppen über die zugefrorene Elbe. Sie landete im damaligen „Kreis Dannenberg“, der unter britischer Militärverwaltung stand und erhielt, als hochschwangere Frau, Unterschlupf im Pastorenhaus in Woltersdorf. Kurze Zeit darauf wechselte sie – da schon mit mir als Baby – auf den Hof von Christoph Bösel gegenüber der Dorfkapelle.
Woltersdorf war zu dieser Zeit, mit seinen 2 Rittergütern, mehr als 60 Hofstellen, Molkerei, Ziegelei und kommerziell betriebener Kiesgrube, recht unsanft aus seinem „Dornröschenschlaf“ geweckt worden. Schuld daran war das Kriegsgeschehen.
Nach 1945 existierten die beiden Rittergüter in der früheren Form nicht mehr; von der ehemaligen Ziegelei stand nur noch der Plattenschuppen; die Milchverarbeitung war nach Lüchow verlegt worden und im einstigen Molkereigebäude bauten ein Schlachter und ein Pilzfabrikant ihre Unternehmen auf. Dem Personalmangel auf den Höfen versuchte man durch den Einsatz von Flüchtlingen aus dem Osten und von elternlosen Halbwüchsigen aus den zerbombten Großstädten zu begegnen.
Inhaltsverzeichnis
Milchkutscher bringen die Milch zur Molkerei Lüchow
Auch nach Kriegsende befanden sich auf fast jeder Hofstelle – neben Pferden, Schweinen und Federvieh – Milchkühe, deren Produkt täglich zur Weiterverarbeitung in die Lüchower Molkerei transportiert werden musste. Zuständig waren hierfür auf den Dörfern Bauern, die sich zusätzlich als „Milchkutscher“ verdingten. Bei uns in Woltersdorf waren es zu meiner Zeit Vater Karl und Sohn Karl(chen) Gehrken-Schulz, die in der Ziegeleistraße eine kleine Landwirtschaft besaßen. Zuerst noch mit Pferd und Wagen und dann mit einem Traktor und einem vierräderigen Anhänger (Gummiwagen) sammelten sie morgens im Dorf die vollen Milchkannen ein.
Abholung der Milchkannen an der Milchbank
Damit das einigermaßen zügig von statten ging, hatte man vor den Höfen in regelmäßigen Abständen sog. Milchbänke errichtet. Diese waren in der Regel ca. 2 qm große, zusammengezimmerte Bretterbohlen, die in etwa einem Meter Höhe auf vier Holzpfählen ruhten. Von hier aus konnte der Beifahrer des Treckergespanns die Kannen problemlos auf die Pritsche des Anhängers ziehen, dessen Bordwand heruntergeklappt war. Um Verwechslungen zu vermeiden, waren an allen Milchkannen außen große Nummern angebracht. Neben vielen Holzbänken gab es in Woltersdorf nur eine einzige gemauerte Version.
In der Molkerei in Lüchow angekommen, wurden die Kannen einzeln gewogen und für die Weiterverarbeitung geleert. Im Laufe des späteren Tages erschien der Milchkutscher erneut im Dorf, lieferte die leeren Milchkannen wieder ab, die teilweise mit Molke, Butter- oder Magermilch gefüllt waren, und verteilte die in der Molkerei bestellten Produkte wie Butter, Käse, Sahne oder Quark an die Höfe. Danach begann das tägliche Ritual der anstrengenden akribischen Reinigung der Milchkannen, was viel Zeit in Anspruch nahm.
Transport der Milchkannen
Eine weitere Herausforderung war der Transport der vollen, 20 kg schweren Milchkannen zu den Milchbänken. Oft benutzte man Handkarren oder auch zu sog. „Milchkarren“ umgerüstete Sackkarren. Kleinbauern, die meistens nur eine oder 2 Kannen transportieren mußten, hatten dafür ein Melkerrad: An einem Fahrrad wurde zu beiden Seiten eine Aufhängevorrichtung montiert, mit deren Hilfe zwei 20 kg-Kannen von der Weide zum Hof und zu der Milchbank transportiert werden konnten.
Treffpunkt Milchbank
Neben dieser vordergründigen technischen Komponente, hatten die Milchbänke auch eine soziale Funktion als Bestandteil des dörflichen Alltags. Wenn der Milchkutscher die Kannen von der Milchbank auf seinen Wagen zog, begann schon der erste Gedankenaustausch unter den anwesenden Leuten über dies und das. Dabei gab es natürlich viel zu erzählen: Der neueste Klatsch und Tratsch, wer mit wem ging und welche Frau wieder in guter Hoffnung war. Das hatte dann schon den Charakter einer Dorf-Zeitung. Am Nachmittag trafen wir älteren Kinder uns an der Milchbank, um Hausaufgaben für die Schule auszutauschen und uns für irgendwelche Unternehmungen zu verabreden.
Aber auch schon vor dem Krieg waren die Milchbänke abends ein beliebter Treffpunkt für die Knechte und Mägde, die auf den Höfen ihre harte Arbeit verrichten mußten. Hier wurden viele Freundschaften geschlossen und es entstand auch so manche Liebschaft.
Irgendwann begann auch in Woltersdorf das „Höfesterben“. Die kleinen landwirtschaftlichen Betriebe gaben auf, zumal die hygienischen Anforderungen an das Lebensmittel Milch immer strenger wurden. Den örtlich Milchkutscher gabs nicht mehr, denn aus den großen Stallungen wurde die Rohmilch direkt mit dem Tanklaster abgeholt.
Mondscheinkompanie an der Milchbank gegründet
Und so wurden auch die vorhandenen Milchbänke ihrer eigentlichen Aufgabe beraubt und im Laufe der Zeit dem Verfall preisgegeben. Einzig die gemauerte Version, die in der Dorfstraße vor dem Hof Krone stand, überdauerte die folgenden Jahrzehnte. In einer Pfingstnacht des Jahres 1967 fanden sich hier etliche junge Mitglieder der Schützengilde Woltersdorf zusammen und gründeten, aus einer Bierlaune heraus, die neue Mondscheinkompanie der Gilde. Seit dieser Zeit wird diese letzte Woltersdorfer Milchbank als historische Gründungsstätte geehrt. Eine eingelassene Marmorplatte, gestiftet vom Lüchower Steinmetz Manfred Boeder, weist auf diesen Umstand hin.
Pünktlich zu Pfingsten 1987, dem 20-jährigen Jubiläum der „Mondscheinkompanie“, wurde die Gründungsmilchbank von einigen Schützenbrüdern – unter der fachkundigen Leitung von Rüdiger Maatsch – gründlich renoviert. Am 1. Schützenfesttag machte während des Dorfummarsches die ganze Gilde an diesem historischen Ort Halt, erinnerte in einer Festansprache an die Gründungsumstände und weihte an Ort und Stelle die neue Fahne für die Mondscheinkompanie.
Die Jahre gingen ins Land und über ein Vierteljahrhundert später wurde die Milchbank 2023 von Grund auf saniert. Dies geschah mit Unterstützung der Gemeinde, von Sponsor Michael Keller und vielen engagierten Schützenbrüdern. Zur Erinnerung wurde dabei unter anderem eine Kapsel mit einer Urkunde eingemauert, auf der sich alle Beteiligten per Unterschrift verewigen durften.“
(Joachim Kracht, August 2024)
Urkunde
Milchbank in 3-D
Hier könnt ihr die Milchbank anno Mai 2017 als 3-D-Animation auf sketchfab ansehen: