Eine dorfgeschichtliche Momentaufnahme der Woltersdorfer Wohn- und Besitzverhältnisse um ca. 1955/59, 10 Jahre nach Kriegsende. Es beginnt „Am Sande“ …
Dieses Archiv wurde erstellt aus den Kindheitserinnerungen von Joachim Kracht und Jürgen Meyer und dem Fundus von Marianne Gehrke.
Inhaltsverzeichnis
- Wohnen und Besitzverhältnisse in Woltersdorf nach dem 2. Weltkrieg
- Einquartierung / Zwangswohnraumbewirtschaftung
- 1938 gab es 60 Bauernhöfe mit Vollerwerb
- 1948 waren es noch 20 Höfe
- Postbauern
- Zonenrandförderung
- SKF siedelt sich an
- Wer gehörte wohin in Woltersdorf?
- 1 Hofstelle der Familie Mennerich
- 2 Hof der Witwe Meine (Meine’s Mudder)
- 3 Resthof von Familie Hermann und Hertha Tiedeitz
- 4 Wohn- und Wirtschaftsgebäude der Familie Günther und Anita Wenzel geb. Bluhm
- 5 Resthofstelle der Familie Schulz
- 6 Resthof der Familie Meyer
- 7 Resthof der Witwe Else Schulz geb. Neumann
- 8 Resthof der Familie Riebow
- 9 Resthof des Witwers Friedrich Meier
- Wichtige Anmerkung zum Thema Fotos:
Wohnen und Besitzverhältnisse in Woltersdorf nach dem 2. Weltkrieg
Eine Momentaufnahme aus der zweiten Hälfte der 1950er Jahre.
Bilder & Texte von Joachim Kracht,
unterstützt von Jürgen Meyer mit Recherchen vor Ort!
Joachim Kracht erzählt:
Kurz nach Kriegsende flüchtete meine Mutter – bereits schwanger mit mir – vor den marodierenden Rotarmisten aus ihrer mecklenburgischen Heimat über die Elbe und fand, wie viele andere ledige Mädchen, im alten Woltersdorfer Pastorenhaus Unterschlupf. Als ich dann mit den ersten Wehen mein Kommen anmeldete, ging es nach Hitzacker in die Pension Deicke am Weinberg, die in dieser Zeit als provisorische Geburtsklinik des Landkreises dienen mußte. Dort erblickte ich das Licht der Welt, so wie viele andere Woltersdorfer nach mir. Auch wenn in meiner Geburtsurkunde als Geburtsort „Hitzacker“ steht, fühlte ich mich doch stets als „Woltersdorfer“, wo ich meine Kindheit und Jugend und den größten Teil meines Lebens verbrachte.
Einquartierung / Zwangswohnraumbewirtschaftung
Zurück in Woltersdorf, konnte meine Mutter – nun mit Säugling – nicht mehr in dem völlig überfüllten Pastorenhaus bleiben. Wir wurden gegenüber auf dem Hof von Christoph Bösel, in einem Gesinderaum („Knechtenkammer“) behördlich einquartiert.
Hierzu muß man wissen, daß die Wohnraumsituation zu dieser Zeit in unserem Landkreis völlig prekär war. Die großen Flüchtlingsströme aus dem Osten rissen auch ein Jahr nach dem Krieg immer noch nicht ab und niemand wusste, wie es weitergehen sollte. Jeder Haus- und Hofbesitzer wurde im Rahmen einer Zwangswohnungsbewirtschaftung verpflichtet, jeden freien Wohnraum beim Wohnungsamt zu melden.
Dieses betraf besonders die Landwirtschaft, die unter dem früheren Regime reichlich preveligiert worden war (Reichsnährstand, Ortsbauernführer, etc.) Bis zum Kriegsende verfügten die Bauern dadurch über reichlich landwirtschaftliches Hilfspersonal (Knechte, Mägde und später Zwangsarbeiter), die auf den Höfen untergebracht waren. In diese frei gewordenen, sehr einfachen Zimmer ( mitunter ohne Strom und kaum beheizbar), wurden jetzt die sogenannten „Flüchtlinge“ eingewiesen. Kurze Zeit später erfolgte dann meistens prompt eine Gegenklage beim Amtsgericht wg. Eigenbedarfsanmeldung des Hofbesitzers. Dies war ein sehr beliebtes Spiel und so lernte ich dann schon als kleines Kind auf unserer Odyssee durch Woltersdorf viele Höfe und „Knechtenkammern” kennen.
Wie gesagt, die glorreichen Zeiten für die Bauernschaft waren mit dem verlorenen Krieg zu Ende gegangen. Viele Bauernsöhne und damit auch Hoferben hatten auf den Schlachtfeldern ihr Leben lassen müssen, die Alten saßen nun allein ohne Zukunftsperspektive zu Hause. Dort, wo noch heiratsfähige Töchter oder Kriegerwitwen auf den Höfen waren, strebte man manchmal eine Einheirat mit einem geflüchteten Bauern aus den verloren gegangenen Ostgebieten an. Aber das ging nicht immer gut, denn schon beim ersten Streit erklangen die stereotypen Vorwürfe der Einheimischen: „Was willst du denn – du Hungerleider? Du hast doch nichts mitgebracht und dich nur ins warme Nest gesetzt!“
1938 gab es 60 Bauernhöfe mit Vollerwerb
Waren es 1938 noch über 60 Höfe gewesen, die ihre Existenz auf landwirtschaftlicher Basis im Vollerwerb bestritten, so ging es mit Beginn der fünfziger Jahr merklich bergab.
Die einsetzende gesetzliche Flurbereinigung, bei der die meist kleinen Flächen eines zersplitterten Grundbesitzes zu größeren und damit effektiver nutzbaren Flächen zusammengefasst wurden, machte schnell klar, dass viele Höfe als Vollerwerbsbetrieb nicht mehr zu halten waren.
1948 waren es noch 20 Höfe
10 Jahre später hatten nahezu 40 Hofbesitzer das Handtuch geworfen. Viele verkauften fast all ihre Flächen oder verpachteten sie. Manche behielten nur noch einen kleinen Teil zur Selbstversorgung und Futteranbau für Schwein, Kuh und Geflügel. Als Anreiz wurde die Hofaufgabe mit einer staatliche Prämie gefördert, die aber für einen weiteren Lebensunterhalt nicht ausreichte und man suchte nach anderen Erwerbsquellen.
Postbauern
So entstand dann unter anderem auch der Begriff des „Postbauern“. Die Deutsche Bundespost hatte auf dem ehemaligen Wehrmachtsgelände in den Woltersdorfer “Neuen Wiesen” eine Überseefunk-Empfangsstelle eingerichtet, zu der auch ein großes Waldgebiet als Staatsforst mit eigenem Forstbeamten gehörte. Zur ständigen Bewirtschaftung von Gebäuden und Liegenschaften wurden viele Hilfskräfte benötigt, die sich größtenteils aus der ehemaligen Woltersdorfer Bauernschaft rekrutierten. Da es sich überwiegend um Teilzeitarbeit handelte, konnte man seine Nebenerwerbslandwirtschaft weiter führen, zumal Hofstelle und Gebäude erhalten geblieben waren. Große Investitionen für Zugmaschinen etc. waren zwar nicht mehr möglich aber man konnte sich behelfen.
Ich erinnere mich noch sehr gut an Hermann und Helga Wilke, die ihre Hofstelle in der Ziegeleistraße neben der Tankstelle Triebe hatten. In Ermangelung eines Treckers spannte er seine beiden Kühe vor den Leiterwagen, um auf sein verbliebenes Feld zu fahren. Er soll sie sogar zum Pflügen abgerichtet haben. Der Begriff „Kuhbauer“ erhielt dadurch für mich eine völlig neue Bedeutung.
Zonenrandförderung
Das Land Niedersachsen war aber weiterhin bestrebt, neue Arbeitsplätze in unserer Region zu schaffen. Man versuchte sich in Industrieansiedlung, die durch Zahlung der sog. „Zonenrandförderung“ attraktiv gemacht werden sollte. Der 1. Versuch mit der Ansiedlung einer Kugelschreiberfabrik in Lüchow ging dann auch glatt in die Hose. Als meine Mutter stolz die ersten, von ihr montierten Stifte nach Haus brachte, konnte ich schon als Grundschüler erkennen, was das für ein Plunder war. Die einfachen Stifte, die nur aus Plastikhülle und Mine bestanden, lieferten ein verschmiertes Schriftbild und liefen bei zunehmender Wärme ständig aus. Die Druck-Kugelschreiber gab es mit unterschiedlicher Mechanik, von der keine überzeugend funktionierte – es sah da mehr nach einem Experimentierstadium aus. Nach kaum einem Jahr war die Firma am Ende und meine Mutter wieder zu Hause.
SKF siedelt sich an
Der zweite Investitionsversuch erwies sich einige Zeit später als dauerhafter: Auf dem Gelände der Pleite gegangenen Fabrik ließ sich die SKF nieder, die damals noch Schweinfurter-Kugellager-Fabrik hieß. Hier bekamen dann auch nach und nach die restlichen Woltersdorfer Nebenerwerbsbauern Arbeit und Brot, zumal ihre Umschulung zum Metallarbeiter großzügig vom Staat gefördert wurde. Das überzeugte auch die letzten Zweifler und sie hängten ihre Landwirtschaft an den Nagel.
Wer gehörte wohin in Woltersdorf?
Zusammengetragen aus den Kindheitserinnerungen von Jo Kracht und Jürgen Meyer.
Anmerkung: Dorftypische Namenszusätze sind in “Anführungszeichen” gesetzt, plattdeutsche Bezeichnungen in kursiv.
1 Hofstelle der Familie Mennerich
Tochter Lina übernahm später mit ihrem Ehemann Ernst Schulze den Hof von Baschan´s Mudder in der Dorfstraße.
2 Hof der Witwe Meine (Meine’s Mudder)
Hof und Wirtschaft von Meine’s Mudder wurde später von Familie Adolf Bense übernommen.
3 Resthof von Familie Hermann und Hertha Tiedeitz
Vor langer Zeit stand auf diesem Gelände eine Dorfschmiede. Hermann Tiedeitz fand nach der Hofaufgabe eine Anstellung bei der SKF in Lüchow.
Der ehemalige Resthof Tiedeitz
Haus von Tiedeitz, Am Sande 11
1953: Anna und Karl Tiedeitz mit Enkelin Klein-Heidi.
4 Wohn- und Wirtschaftsgebäude der Familie Günther und Anita Wenzel geb. Bluhm
Vor langer Zeit stand auf diesem Gelände eine Tischlerei.
Günther Wenzel arbeitete als Maurer und in Teilzeit als Waldarbeiter in der Staatsforst der Funkstelle Lüchow. Einige Jahre lang war in einem Seiteflügel des Hauses die Woltersdorfer Gemeindeschwester Frieda Trzcinski untergebracht. Unter dem Dach wohnte zeitweilig die Familie von Werner Mohrin mit Tochter Astrid.
Das ehemalige Wohngebäude Wenzel
Anita und Günther Wenzel
5 Resthofstelle der Familie Schulz
Vor langer Zeit stand auch auf diesem Gelände eine Dorfschmiede.
Das Bauernhaus von “Obenschulz” wurde später von der Familie Hanke übernommen. Walter Hanke baute es dann zum Dorfkrug um, der überwiegend von seiner Ehefrau Helga bewirtschaftet wurde.
Der ehemalige Resthof “Obenschulz”
6 Resthof der Familie Meyer
Hier lebten Heinz und Lene Meyer, die erst kürzlich verstorben sind, mit Sohn Jürgen.
Auch Heinz Meyer fand nach der Hofaufgabe eine Anstellung bei der SKF in Lüchow.
Jürgen Meyer schreibt hierzu:
Meine Mutter und ihr Bruder Victor hatten es beide, wie viele andere abertausende Ostflüchtlinge, aus Rußland bzw. aus den besetzten Ostgebieten nach Restdeutschland geschafft. Mein Onkel Victor wanderte 1954 nach Australien aus. Auf seinem Foto schrieb er zum Abschied auf die Rückseite:
„Lieben und sie nicht haben,
ist schwerer als nach Steinen graben,
denn die Liebe ist so schwer,
dich vergess` ich nimmermehr.“
7 Resthof der Witwe Else Schulz geb. Neumann
Siegfried Preiß heiratete die einzige Tochter Waltraud und fand nach der Hofaufgabe eine Anstellung bei der SKF in Lüchow.
Die ehemalige Hofstelle Schulz-Neumann
Siegfried und Waltraud Preiß geb. Schulz
8 Resthof der Familie Riebow
Der Sohn Hartwig jun. von Lieschen und Hartwig Riebow kam in der Nachkriegszeit bei einem tragischen Unfall durch Hantieren mit einer Handgranate, die er zufällig auf dem häuslichen Dachboden gefunden hatte, in der Kiesgrube von Otto Milatz ums Leben. Später wurde das Anwesen vom Stiefsohn Martin Grade übernommen.
Die ehemalige Hofstelle Riebow
Hartwig und Luise Riebow u. Stiefsohn Martin Grade
9 Resthof des Witwers Friedrich Meier
Enkeltochter Rita heiratete später den Lehrer Ulrich Schneider, der auf dem Grundstück ein neues Wohnhaus errichtete.
Die ehemalige Resthofstelle Meier
Auf dem heutigen freien Vorplatz stand früher, an der Ecke zur Ziegeleistraße, das Gasthaus Lüdemann. Die Gaststube befand sich hinter den drei Fenstern zum „Am Sande“ hin. Heute zeugen von dem Standort nur noch die beiden uralten Linden.
Friedrich Meier (landläufig auch als Beier-Meier bekannt) mit seinem Lieblingsgefährt auf der Oerenburger Straße (1985).
Wichtige Anmerkung zum Thema Fotos:
Um so eine Internetseite interessant gestalten zu können, gehören neben den Textbeiträgen auch Fotos dazu, damit sich der geneigte Betrachter eine bildliche Vorstellung machen kann.
Unser Ziel ist es, über jedes hier beschriebene Grundstück mindestens ein Bild einzustellen. Da uns hierfür kaum historische Fotos zur Verfügung stehen, werden wir in nächster Zeit eine eigene Bilderserie erstellen. Dazu schießen wir, von der jeweiligen Grundstücksgrenze aus, ein Foto. Die Bilder werden dann künstlerisch aufbereitet und dadurch leicht verfremdet ins Netz gestellt, so daß sie kein anderer unbemerkt für seine Zwecke nutzen kann. Außerdem werden keine aktuellen Adressdaten in diesem Beitrag aufgeführt.
Wer aber dennoch – aus welchen Gründen auch immer – kein Foto im Netz haben möchte, sollte uns das bitte umgehend mitteilen. Entweder sprechen Sie uns vor Ort an oder nutzen die Kontaktmöglichkeit auf dieser Website. Ansprechen sollten Sie uns aber auch, wenn Sie uns historische Fotos zur digitalen Kopie überlassen können – darüber würden wir uns sehr freuen.